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f0103

Studien über Hysterie 1892-1899
I.
Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. (Breuer, Freud)
II.
Kranken-geschichten:
Beobachtung I. Frl. Anna O… (Breuer)
Beobachtung II. Frau Emmy v. N… (Freud)
Beobachtung III. Frl. Lucie R… (Freud)
Beobachtung IV. Katharina … (Freud)

Beobachtung V. Frl. Elisabeth v. R… (Freud)
III.
Theoretisches (Breuer)
IV.
Zur Psychotherapie der Hysterie (Freud)

« Urschrift 03_1»

II. Frau Emmy v. N…, vierzig Jahre, aus Livland.
Am 1. Mai 1889 wurde ich der Arzt einer etwa vierzigjährigen Dame, deren Leiden wie deren Persönlichkeit mir so viel Interesse einflößten, daß ich ihr einen großen Teil meiner Zeit widmete und mir ihre Herstellung zur Aufgabe machte. Sie war Hysterika, mit größter Leichtigkeit in Somnambulismus zu versetzen, und als ich dies merkte, entschloß ich mich, das Breuersche Verfahren der Ausforschung in der Hypnose bei ihr anzuwenden, das ich aus den Mitteilungen Breuers über die Heilungsgeschichte seiner ersten Patientin kannte. Es war mein erster Versuch in der Handhabung dieser therapeutischen Methode, ich war noch weit davon entfernt, dieselbe zu beherrschen, und habe in der Tat die Analyse der Krankheitssymptome weder weit genug getrieben, noch sie genügend planmäßig verfolgt. Vielleicht wird es mir am besten gelingen, den Zustand der Kranken und mein ärztliches Vorgehen anschaulich zu machen, wenn ich die Aufzeichnungen wiedergebe, die ich mir in den ersten drei Wochen der Behandlung allabendlich gemacht habe. Wo mir nachherige Erfahrung ein besseres Verständnis ermöglicht hat, werde ich es in Noten und Zwischenbemerkungen zum Ausdrucke bringen:
« Ende der Urschrift 03_1»

« Anmerkung 03_1»

II. Frau Emmy v. N…, vierzig Jahre, aus Livland.
Am 1. Mai 1889 wurde ich der Arzt einer etwa vierzigjährigen Dame, deren Leiden(n., suffering) wie deren Persönlichkeit mir so viel Interesse einflößten(einflößen, instill), daß ich ihr einen großen Teil meiner Zeit widmete(widmen, dedicate) und mir ihre Herstellung(Wiedergesundung) zur Aufgabe(sich etw. zur Aufgabe machen, set oneself to do sth.) machte.

Sie war Hysterika, mit größter Leichtigkeit in Somnambulismus zu versetzen, und als ich dies merkte, entschloß ich mich, das Breuersche Verfahren der Ausforschung(investigation) in der Hypnose bei ihr anzuwenden(anwenden, apply, utilize), das ich aus den Mitteilungen(notifications) Breuers über die Heilungsgeschichte seiner ersten Patientin kannte.

Es war mein erster Versuch(attempt) in der Handhabung(use) dieser therapeutischen Methode,

ich war noch weit(adv., afar) davon entfernt(adj., remote), dieselbe zu beherrschen(master),

und habe in der Tat die Analyse der Krankheitssymptome

weder(weder … noch, neither … nor) weit genug getrieben(treiben, drive),

noch sie genügend(sufficiently) planmäßig(methodically) verfolgt(verfolgen, pursue).

Vielleicht wird es mir am besten gelingen(be successful), den Zustand der Kranken und mein ärztliches Vorgehen(procedure, approach) anschaulich(demonstratively) zu machen, wenn ich die Aufzeichnungen(pl., notes, records) wiedergebe(describe again), die ich mir in den ersten drei Wochen der Behandlung allabendlich gemacht habe.

Wo(= if, when, in case if) mir nachherige(nachherig, subsequent) Erfahrung(empirical knowledge) ein besseres Verständnis ermöglicht hat, werde ich es in Noten und Zwischenbemerkungen(Zwischenbemerkung, incidental remark, parenthesis) zum Ausdrucke bringen:

« Ende der Anmerkung 03_1»46

« Urschrift 03_2»

1. Mai 1889. Ich finde eine noch jugendlich aussehende Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen auf dem Diwan liegend, eine Lederrolle unter dem Nacken. Ihr Gesicht hat einen gespannten, schmerzhaften Ausdruck, die Augen sind zusammengekniffen, der Blick gesenkt, die Stirne stark gerunzelt, die Nasolabialfalten vertieft. Sie spricht wie mühselig, mit leiser Stimme, gelegentlich durch spastische Sprachstockung bis zum Stottern unterbrochen. Dabei hält sie die Finger ineinander verschränkt, die eine unaufhörliche athetoseartige Unruhe zeigen. Häufige ticartige Zuckungen im Gesichte und an den Halsmuskeln, wobei einzelne, besonders der rechte Sternokleidomastoideus plastisch vorspringen. Ferner unterbricht sie sich häufig in der Rede, um ein eigentümliches Schnalzen hervorzubringen, das ich nicht nachahmen kann. [Dieses Schnalzen bestand aus mehreren Tempi; jagdkundige Kollegen, die es hörten, verglichen dessen Endlaute mit dem Schnalzen des Auerhahnes.] Was sie spricht, ist durchaus zusammenhängend und bezeugt offenbar eine nicht gewöhnliche Bildung und Intelligenz. Um so befremdender ist es, daß sie alle paar Minuten plötzlich abbricht, das Gesicht zum Ausdrucke des Grausens und Ekels verzieht, die Hand mit gespreizten und gekrümmten Fingern gegen mich ausstreckt und dabei mit veränderter angsterfüllter Stimme die Worte ruft: “Seien Sie still — reden Sie nichts — rühren Sie mich nicht an!” Sie steht wahrscheinlich unter dem Eindrucke einer wiederkehrenden grauenvollen Halluzination und wehrt die Einmengung des Fremden mit dieser Formel ab. [Die Worte entsprachen in der Tat einer Schutzformel, die auch im weiteren ihre Erklärung findet. Ich habe solche Schutzformeln seither bei einer Melancholika beobachtet, die ihre peinigenden Gedanken (Wünsche, daß ihrem Manne, ihrer Mutter etwas Arges zustoßen möge, Gotteslästerungen u. dgl.) auf diese Art zu beherrschen versuchte.] Diese Einschaltung schließt dann ebenso plötzlich ab, und die Kranke setzt ihre Rede fort, ohne die eben vorhandene Erregung weiterzuspinnen, ohne ihr Benehmen zu erklären oder zu entschuldigen, also wahrscheinlich ohne die Unterbrechung selbst bemerkt zu haben. [Es handelte sich um ein hysterisches Delirium, welches mit dem normalen Bewußtseinszustande alterniert, ähnlich wie ein echter Tic sich in eine Willkürbewegung einschiebt, ohne dieselbe zu stören und ohne sich mit ihr zu vermengen.]

« Ende der Urschrift 03_2»

« Anmerkung 03_2»

1. Mai 1889. Ich finde eine noch(still) jugendlich aussehende(-looking) Frau mit feinen(fein, beautiful), charakteristisch(specifically) geschnittenen(schneiden, cut, carve) Gesichtszügen(feature) auf dem Diwan liegend, eine Lederrolle(leather scroll) unter dem Nacken(back of the neck).

Ihr Gesicht hat einen gespannten(spannen, to tension), schmerzhaften(painful) Ausdruck, die Augen sind zusammengekniffen(die Augen zusammenkneifen, narrow one’s eyes to a slit), der Blick(glance) gesenkt(senken, sink), die Stirne(forehead) stark gerunzelt(die Stirn gerunzelt, frowned), die Nasolabialfalten(nasolabial folds) vertieft(vertiefen, deepen).

Sie spricht wie mühselig(cumbersome), mit leiser Stimme, gelegentlich(at times) durch spastische Sprachstockung(Stockung, stagnation) bis zum Stottern unterbrochen(unterbrechen, interrupt).

Dabei(at the same time) hält sie die Finger ineinander verschränkt(verschränken, entangle), die eine unaufhörliche(ceaseless) athetoseartige Unruhe zeigen.

Häufige ticartige(tic-artig) Zuckungen(Zuckung, twitch) im Gesichte und an den Halsmuskeln, wobei einzelne(each), besonders der rechte(right side) Sternokleidomastoideus plastisch(vividly) vorspringen(jump forward).

Ferner unterbricht(sich unterbrechen beim Reden, to interrupt oneself) sie sich häufig in der Rede(talk), um ein eigentümliches(curious) Schnalzen(mit der Zunge schnalzen, to click one’s tongue) hervorzubringen(hervor_bringen, produce), das ich nicht nachahmen(imitate) kann.

[Dieses Schnalzen bestand(bestehen aus, be composed of) aus mehreren Tempi(Tempo, n., = temporal frame); jagdkundige(Jagd, hunting ; kundig, expertly) Kollegen, die es hörten, verglichen(mit etw. vergleichen, collate with sth.) dessen Endlaute mit dem Schnalzen des Auerhahnes(Auerhahn, capercaillie cock).]

Was sie spricht, ist durchaus(thoroughly) zusammenhängend(zusammenhängend, adj., coherent) und bezeugt(bezeugen, witness) offenbar eine nicht gewöhnliche Bildung(education, culture) und Intelligenz.

Um so befremdender(befremdend, odd, peculiar, strange) ist es, daß sie alle paar Minuten plötzlich abbricht(ab_brechen, discontinue), das Gesicht zum Ausdrucke des Grausens(Grausen, horror) und Ekels verzieht(verziehen, twist), die Hand mit gespreizten(spreizen, spread) und gekrümmten(krümmen, bend, contort) Fingern gegen mich ausstreckt(aus_strecken, reach out) und dabei mit veränderter(verändern, modify) angsterfüllter Stimme die Worte ruft: “Seien Sie still — reden(reden, speak) Sie nichts — rühren(an_rühren, touch) Sie mich nicht an!”

Sie steht wahrscheinlich unter dem Eindrucke(Eindruck, impression) einer wiederkehrenden(wiederkehrend, adj., recurring) grauenvollen(grauenvoll, horrid) Halluzination und wehrt(ab_wehren, repel) die Einmengung(Einmengung, interference) des Fremden mit dieser Formel(=wording) ab.

[Die Worte entsprachen(entsprechen, correspond, match) in der Tat einer Schutzformel(Schutz-, protective), die auch im weiteren ihre Erklärung findet.

Ich habe solche Schutzformeln seither(since that time) bei einer Melancholika beobachtet, die ihre peinigenden(peinigend, distressful) Gedanken (Wünsche, daß ihrem Manne, ihrer Mutter etwas Arges zustoßen(happen to sb.) möge, Gotteslästerungen(blasphemy) u. dgl.) auf diese Art zu beherrschen(control) versuchte.]

Diese Einschaltung(insertion, interpolation) schließt(ab_schließen, complete) dann ebenso(in like manner) plötzlich ab, und die Kranke setzt(fort_setzen, resume) ihre Rede fort, ohne die eben vorhandene(existing) Erregung(excitation) weiterzuspinnen(weiter_spinnen, develop further), ohne ihr Benehmen(behavior) zu erklären oder zu entschuldigen, also wahrscheinlich ohne die Unterbrechung(interruption) selbst bemerkt zu haben.

[Es handelte sich um(It was a matter of) ein hysterisches Delirium, welches mit dem normalen Bewußtseinszustande alterniert, ähnlich wie ein echter Tic sich in eine Willkürbewegung einschiebt(sich einschieben, insert itself), ohne dieselbe zu stören und ohne sich mit ihr zu vermengen(mix).]

« Ende der Anmerkung 03_2»46

« Urschrift 03_3»

Von ihren Verhältnissen erfahre ich folgendes: Ihre Familie stammt aus Mitteldeutschland, ist seit zwei Generationen in den russischen Ostseeprovinzen ansässig und dort reich begütert. Sie waren vierzehn Kinder, sie selbst das dreizehnte davon, es sind nur noch vier am Leben. Sie wurde von einer übertatkräftigen, strengen Mutter sorgfältig, aber mit viel Zwang erzogen. Mit dreiundzwanzig Jahren heiratete sie einen hochbegabten und tüchtigen Mann, der sich als Großindustrieller eine hervorragende Stellung erworben hatte, aber viel älter war als sie. Er starb nach kurzer Ehe plötzlich am Herzschlage. Dieses Ereignis sowie die Erziehung ihrer beiden jetzt sechzehn und vierzehn Jahre alten Mädchen, die vielfach kränklich waren und an nervösen Störungen litten, bezeichnet sie als die Ursachen ihrer Krankheit. Seit dem Tode ihres Mannes vor vierzehn Jahren ist sie in schwankender Intensität immer krank gewesen. Vor vier Jahren hat eine Massagekur in Verbindung mit elektrischen Bädern ihr vorübergehend Erleichterung gebracht, sonst blieben alle ihre Bemühungen, ihre Gesundheit wieder zu gewinnen, erfolglos. Sie ist viel gereist und hat zahlreiche und lebhafte Interessen. Gegenwärtig bewohnt sie einen Herrensitz an der Ostsee in der Nähe einer großen Stadt. Seit Monaten wieder schwer leidend, verstimmt und schlaflos, von Schmerzen gequält, hat sie in Abbazia vergebens Besserung gesucht, ist seit sechs Wochen in Wien, bisher in Behandlung eines hervorragenden Arztes.

Meinen Vorschlag, sich von den beiden Mädchen, die ihre Gouvernante haben, zu trennen und in ein Sanatorium einzutreten, in dem ich sie täglich sehen kann, nimmt sie ohne ein Wort der Einwendung an.

« Ende der Urschrift 03_3»

« Anmerkung 03_3»

Von ihren Verhältnissen(circumstances)

erfahre(erfahren, get to know) ich folgendes(the following):

Ihre Familie stammt(stammen aus, originate in) aus Mitteldeutschland, ist seit zwei Generationen in den russischen Ostseeprovinzen(Baltic) ansässig(adj., domiciled) und dort reich begütert(reich begütert, wealthy, adj.).

Sie waren vierzehn Kinder, sie selbst das dreizehnte davon, es sind nur noch vier am Leben.

Sie wurde von einer übertatkräftigen(tatkräftig, energetic), strengen(streng, strict) Mutter sorgfältig(meticulously), aber mit viel Zwang erzogen(erziehen, bring up, educate).

Mit dreiundzwanzig Jahren heiratete sie einen hochbegabten(highly talented) und tüchtigen(clever) Mann, der sich als Großindustrieller eine hervorragende(outstanding) Stellung(status) erworben(erwerben, attain) hatte, aber viel älter war als sie.

Er starb(sterben, die) {nach kurzer Ehe(matrimony) } plötzlich am Herzschlage.

Dieses Ereignis(event (husband’s death)) sowie die Erziehung ihrer beiden jetzt sechzehn und vierzehn Jahre alten Mädchen, die vielfach kränklich waren und an nervösen Störungen litten(leiden), bezeichnet(declare her disease as the cause) sie als die Ursachen ihrer Krankheit.

Seit dem Tode ihres Mannes vor vierzehn Jahren ist sie in schwankender(schwankend, varying) Intensität immer krank gewesen.

Vor vier Jahren hat eine Massagekur in Verbindung(joint) mit elektrischen Bädern(electrically heated steam bath ; portable Turkish bath) ihr vorübergehend Erleichterung gebracht, sonst blieben alle ihre Bemühungen(Bemühung, attempt), ihre Gesundheit wieder zu gewinnen, erfolglos.

Sie ist viel gereist(reisen) und hat zahlreiche(many) und lebhafte(vivid) Interessen.

Gegenwärtig(at present) bewohnt(live in) sie einen Herrensitz(manor) an der Ostsee(Baltic Sea) in der Nähe einer großen Stadt.

Seit Monaten wieder schwer leidend(leiden, suffer), verstimmt(be in a bad mood) und schlaflos, von Schmerzen gequält(quälen, torment), hat sie in Abbazia(in western Croatia) vergebens(vainly) Besserung(recovery) gesucht, ist seit sechs Wochen in Wien, bisher(so far) in Behandlung eines hervorragenden(hervorragend, good) Arztes.

Meinen Vorschlag(m., recommendation, proposition), sich von den beiden Mädchen, die ihre Gouvernante haben, zu trennen(sich von jdm trennen von, separate from) und in ein Sanatorium einzutreten, in dem ich sie täglich sehen kann, nimmt(an_nehmen, accept)sie(S) {ohne ein Wort der Einwendung(objection) } an.

« Ende der Anmerkung 03_3»47

« Urschrift 03_4»

Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, daß sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Türe unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, daß die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonal kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie “Herein” gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.
Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Beine, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massieren.
Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu : Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdrucke von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggeriere Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, daß ich sie hypnotisieren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisiert worden, ich darf aber annehmen, daß sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiß, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte. [Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, ließ dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre sieben, im nächsten acht Wochen einnahm, über alles Mögliche miteinander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustande die Tatsache, daß sie hypnotisiert werde, möglichst zu ignorieren.]
Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den größeren Teil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Korrespondenz zu besorgen.

« Ende der Urschrift 03_4»

« Anmerkung 03_4»

Am 2. Mai abends besuche(go to see) ich sie im Sanatorium.

Es fällt(fallen, Es fällt mir auf, daß, It strikes me that) mir auf, daß sie jedesmal so heftig zusammenschrickt(zusammenschrecken, startle), sobald(when) die Türe unerwartet(adv.) aufgeht(auf_gehen, open).

Ich veranlasse(veranlassen, to order) daher, daß die besuchenden(besuchen, visit) Hausärzte und das Wartepersonal kräftig anklopfen(knock at the door) und nicht eher eintreten, als bis sie “Herein(Come in!)” gerufen hat.

Trotzdem grinst(grinsen, grin) und zuckt(zucken, start) sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.

Ihre Hauptklage(Klage, complaint) bezieht(sich auf 4 beziehen, refer to) sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten(Smith error) Beine, die vom Rücken oberhalb des(above the) Darmbeinkammes ausgehen(von etw. ausgehen, take sth. as a starting point).

Ich ordne warme Bäder an und werde (ich) sie zweimal täglich am ganzen Körper massieren.

Sie ist ausgezeichnet(excellently) zur Hypnose geeignet(adj., applicable).

Ich halte(vorhalten, hold sth. in front of) ihr einen(=meinen) Finger vor, rufe(zurufen, shout) ihr zu : Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdrucke von Betäubung(anesthesia) und Verworrenheit(perplexity) zurück.

Ich suggeriere Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar(verkennen, misjudge) gespannter(gespannt, keen) Aufmerksamkeit anhört(an_hören, listen), und wobei ihre Miene(countenance, facial expression) sich allmählich(gradually) glättet(sich glätten, smoothen) und einen friedlichen(friedlich, peaceful) Ausdruck annimmt(an_nehmen, take on).

Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung(S.) an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener(vollkommen, complete) Somnambulismus(S.) (Amnesie) ein.

Ich hatte ihr angekündigt(an_kündigen, announce), daß ich sie hypnotisieren würde, worauf sie {ohne Widerstand(resistance)} einging(auf etw eingehen, agree to sth.).

Sie ist noch nie(noch nie, never before) hypnotisiert worden, ich darf(can) aber annehmen, daß sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl(although) ich nicht weiß, welche Vorstellung(concept, idea) über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte.

[Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren(adj., confused) einen Augenblick herum, ließ dann ihre Augen auf mir ruhen(auf, stay, rest), schien sich besonnen(sich besinnen, recollect oneself) zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt(ab_legen, take off) hatte, und war dann heiter(cheerful) und ganz bei sich.

Obwohl wir {im Verlaufe(im Verlaufe, in the course of) der Behandlung, die in diesem Jahre sieben, im nächsten acht Wochen einnahm(ein_nehmen, take),} über alles Mögliche miteinander sprachen

und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde,

richtete(etw. an jdn. richten, address sth. to sb.) sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich

und schien in ihrem Wachzustande die Tatsache, daß sie hypnotisiert werde, möglichst(möglichst, adv., as…as possible) zu ignorieren.]

Die Behandlung {mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion} wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt(fort_setzen, continue).

Sie schlief gut, erholte(sich erholen, get better) sich zusehends(adv., visibly), brachte(zu_bringen, spend [time]) den größeren Teil des Tages in ruhiger Krankenlage(Lage, f., situation, position, location) zu.

Es war ihr nicht untersagt(untersagen, prohibit), ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Korrespondenz zu besorgen(obtain).

« Ende der Anmerkung 03_4»48

« Urschrift 03_5»

Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Tiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, daß ein Lehrling einen Knaben gebunden und ihm eine weiße Maus in den Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K… habe ihr erzählt, daß er eine ganze Kiste voll weißer Ratten nach Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nacheinander mit der Hand. — “Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an! — Wenn so ein Tier im Bette wäre! (Grausen.) Denken Sie sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine tote Ratte darunter, eine an-genagte!”
In der Hypnose bemühe ich mich, diese Tierhalluzinationen zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand; ich finde in der Tat die Geschichte der Mißhandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzudeliriert.
Am Abend erzählte ich ihr von unserer Unterhaltung über die weißen Mäuse. Sie weiß nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht herzlich. [Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung. Sie pflegte zu klagen, daß sie oft im Gespräche die verdrehtesten Antworten gebe, so daß ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuche antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlaß gab.]
Am Nachmittage war ein sogenannter “Genickkrampf” [Eine Art von Migräne.] gewesen, aber “nur kurz, von zweistündiger Dauer”.

« Ende der Urschrift 03_5»

« Anmerkung 03_5»

Am 8. Mai morgens unterhält(unterhalten, amuse) sie mich, anscheinend(adv., apparently) ganz normal, von gräulichen(gräulich, dreadful) Tiergeschichten(Geschichte, tale).

Sie hat {in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt,} gelesen, daß ein Lehrling(m., apprentice) einen Knaben gebunden und ihm eine weiße Maus in den Mund gesteckt(stecken, thrust)(hat);

der(der Knabe) sei vor Schreck darüber gestorben(sterben, to die, (sein gestorben)).

Dr. K… habe ihr erzählt, daß er eine ganze Kiste(box) voll weißer Ratten(Genitive)(Ratte, f., rat) nach Tiflis(the capital of Georgia, Russia) geschickt(schicken, send).

Dabei treten(hervor_treten, become apparent) alle Zeichen(Zeichen, -en, n., sign) des Grausens(n., horror) höchst plastisch(vivid) hervor.

Sie krampft(clench) mehrmals nacheinander mit der Hand.

— “Seien Sie still, reden(talk) Sie nichts, rühren Sie mich nicht an!

— Wenn so(imagine, if there had been an animal in my bed!) ein Tier im Bette wäre! (Grausen.)

Denken Sie sich, wenn das ausgepackt(aus_packen, unbox) wird!

Es ist(There is) eine tote(tot, adj., dead) Ratte darunter(among them), eine an-genagte(an_nagen, gnaw away)!”

In der Hypnose bemühe(sich bemühenm attempt) ich mich, diese Tierhalluzinationen zu verscheuchen(banish).

Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand;

ich finde in der Tat(indeed) die Geschichte der Mißhandlung eines Lehrbuben(Bub, boy), aber ohne Beimengung(admixture, addition) von Mäusen oder Ratten.

Das(Akk.) hat sie also(thus) {während des Lesens} hinzudeliriert(hinzu-, adding).

Am Abend erzählte ich ihr von unserer Unterhaltung(conversation, talking) über die weißen Mäuse.

Sie weiß nichts davon, ist sehr erstaunt(p.p., erstaunen, astonish) und lacht herzlich.

[Eine solche plötzliche Einschiebung(insertion) eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes(nothing rare) und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung.

Sie pflegte(etw. zu tun pflegen, to use to do sth.) zu klagen(complain), daß sie oft im Gespräche (Gespräch, n., conversation) die verdrehtesten(verdreht, strange) Antworten gebe, so daß ihre Leute sie nicht verstünden.

Bei unserem ersten Besuche(Besuch, m., visit) antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft(seriously): Ich bin eine Frau aus dem vorigen(of last century (18th century)) Jahrhundert.

Wochen später

klärte(auf_klären, clarify) sie mich auf,

sie hätte damals(at that time, in those days) im Delirium an einen schönen alten Schrank(m., cupboard) gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin(Liebhaber, lover, connoisseur) antiker Möbel(das Möbel, -, furniture)(pl. Genit.) erworben(erwerben, purchase).

Auf diesen Schrank

bezog(sich auf etw.Akk. beziehen, to have reference to sth.) sich die Zeitbestimmung(determination of time),

als {meine Frage nach ihrem Alter(n., age)}

zu {einer Aussage(utterance) über Zeiten} Anlaß(Anlass geben zu etw., cause sth.) gab.]

Am Nachmittage war ein sogenannter(so-called) “Genickkrampf(nape-)” [Eine Art von Migräne.] gewesen, aber “nur kurz, von zweistündiger Dauer”.

« Ende der Anmerkung 03_5»49
« Urschrift 03_6»

Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalte ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindrucke der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. — Wann? Zuerst mit fünf Jahren, als meine Geschwister so oft tote Tiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit sieben Jahren, als ich unvermutet meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit acht Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weiße Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit neun Jahren, als ich die Tante im Sarge sah und ihr — plötzlich — der Unterkiefer herunterfiel.

Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgeteilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtnisse bereit; sie hätte in dem kurzen Momente von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Teilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reißt sie den Mund weit auf und schnappt nach Atem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mitteilen, werden mühselig, keuchend hervorgestoßen; nachher beruhigen sich ihre Züge.

Auf meine Frage bestätigt sie, daß sie während der Erzählung die betreffenden Szenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie die daran denke, sehe die Szene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität.

« Ende der Urschrift 03_6»

« Anmerkung 03_6»

Am 8. Mai abends fordere(auf_fordern, invite) ich sie in der Hypnose zum Reden(talking) auf, was ihr {nach einiger Anstrengung(effort)} gelingt(gelingen, go smoothly).

¤

Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalte ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindrucke der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. — Wann? Zuerst mit fünf Jahren, als meine Geschwister so oft tote Tiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit sieben Jahren, als ich unvermutet meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit acht Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weiße Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit neun Jahren, als ich die Tante im Sarge sah und ihr — plötzlich — der Unterkiefer herunterfiel. Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgeteilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtnisse bereit; sie hätte in dem kurzen Momente von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Teilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reißt sie den Mund weit auf und schnappt nach Atem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mitteilen, werden mühselig, keuchend hervorgestoßen; nachher beruhigen sich ihre Züge. Auf meine Frage bestätigt sie, daß sie während der Erzählung die betreffenden Szenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie die daran denke, sehe die Szene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität.

« Ende der Anmerkung 03_6»
« Urschrift 03_7»« Ende der Urschrift 03_7»« Anmerkung 03_7»« Ende der Anmerkung 03_7»
« Urschrift 03_8»« Ende der Urschrift 03_8»« Anmerkung 03_8»« Ende der Anmerkung 03_8»
« Urschrift 03_9»« Ende der Urschrift 03_9»« Anmerkung 03_9»« Ende der Anmerkung 03_9»